Puchberg 1922-1924

Wittgenstein mit seinen Schülern in Puchberg 1925
Wittgenstein mit seinen Schülern in Puchberg 1925

Puchberg am Schneeberg ist derjenige Ort, an dem Wittgenstein – relativ – zufrieden war. Hier verbrachte er, von 1922 bis 1924, den zweiten Abschnitt seiner Zeit als Volksschullehrer. Bestimmt war diese relative Zufriedenheit auch darauf zurückzuführen, dass er dort über die Musik einen wahren Freund fand, mit dem er für den Rest seines Lebens in Verbindung blieb, den Lehrer Rudolf Koder (1902-1977). Noch von der Adresse Storey’s Way 76 in Cambridge, dem Haus seines Arztes, wohin er sich kurz vor seinem Tod am 29. April 1951 zurückgezogen hatte, schrieb Wittgenstein am 30. März 1951 einen letzten Brief an Koder, der mit dem Satz „Mögest Du an mich mit den gleichen Gefühlen denken, wie ich an Dich“ schloss. Jedoch nicht einmal dieser Freund blieb von seiner scharfen Kritik verschont: So schrieb er 1938, dass er mit Koder nicht befriedigend stehe, und dass dessen liebenswürdige Art ihn, Wittgenstein, nicht wärme.

Wittgenstein hatte Koder über die Musik kennen gelernt, und dank der Musik entwickelte sich aus der Bekanntschaft der Lehrerkollegen eine lebenslange Freundschaft. Koder berichtete 1975 darüber: Wittgenstein war ein Einzelgänger. Aber als er, Koder, in seinem Zimmer in der Schule auf dem Klavier den ersten Satz der „Mondscheinsonate“ von Beethoven spielte, klopfte es. Wittgenstein trat ein und fragte, ob er zuhören dürfe. Dieser Besuch wurde zu einem fast täglichen Ereignis, das stets auf die gleiche Weise ablief: Wittgenstein spielte die Themen der Musikstücke auf seiner Klarinette oder er pfiff sie – er soll ein außerordentliches Talent zum Pfeifen gehabt und ganze Musikstücke auswendig gepfiffen haben. Koder begleitete ihn am Klavier.

Das Wohnen in Puchberg entwickelte sich zur schon von Trattenbach her gewohnten Odyssee. Zuerst hatte ihm die Gemeinde ein Zimmer im „Hotel Pfennigbach“ zugewiesen, das der Familie Krumböck gehörte. Das Zimmer war kalt und unbequem, und Wittgenstein war froh, als er es mit einem Zimmer beim Cafétier Zwinz vertauschen konnte. Noch heute steht in der Nähe der Pfennigbachstraße ein älteres Haus, das „Gasthof Krumböckhof“ heißt, und ein älteres Café-Restaurant Zwinz gibt es auch noch. Es ist gut möglich, dass dies die zwei ersten Stationen der Puchberger Wohn-Odyssee waren. Darauf folgte ein Aufenthalt in einem schönen Zimmer im ersten Stock der Ehrbarvilla. Wittgenstein zog dort wegen eines Streits mit der Hausbesitzerin aus. Schließlich landete er im September 1923 in einem typisch wittgenstein’schen Domizil: einer winzigen ausgeräumten Kammer, vom Sohn des Hauses als „sogenannte Waschküche“ und „Bügelzimmer“ beschrieben. Sie war eng, finster und feucht und hatte einen betonierten Boden. Die Waschküche und das Haus am Ziehrerweg 7, an das sie angebaut war, gehörten der Familie Rendl (auch: Rendel). Dort blieb Wittgenstein höchstwahrscheinlich für den Rest seiner Zeit in Puchberg. Frau Rendl betreute Wittgenstein liebevoll, sie bereitete ihm jeden Tag das Frühstück. Zu Mittag aß er wie die anderen Lehrer im Gasthaus Hietz.

Im Jänner 1924 liefen Wittgenstein und sein Kollege Rosner einmal auf dem zugefrorenen Puchberger Teich, der heute im Kurpark liegt, Schlittschuh. Trotz der Warnungen Rosners lief Wittgenstein auch über die noch wenig zugefrorenen Stellen und brach prompt ein. Rosner wollte helfen – und plumpste ebenfalls ins Wasser. Koder stand am Ufer und schrie. Schließlich gelang es den beiden, aus dem Wasserloch herauszukommen. Sie gingen nach Hause und legten sich ins Bett. Krank wurden sie nicht. Eislaufen war in der ganzen Wittgenstein-Familie ein beliebter Sport. Es gibt Fotos, auf denen man verschiedene Familienmitglieder auf dem Platz des Wiener Eislaufvereins Schlittschuh laufen sieht.

Wittgenstein scheute sich nie, selbst Hand anzulegen. Wie in Trattenbach so präparierte er auch in Puchberg kleinere Tiere für die Lehrmittelsammlung. Aus dieser Sammlung stammt das in Trattenbach ausgestellte Skelett einer von Wittgenstein präparierten Katze. Darüber hinaus erprobte er seine große handwerkliche Geschicklichkeit an der Drehbank der Schlosserei Haberler.

Über der praktischen Betätigung und dem Unterrichten verlor Wittgenstein jedoch nicht sein Interesse an der Beschäftigung mit der Sprache, auch wenn es kein philosophisches Interesse war. „Ich glaube wenn ich lang genug lebe werde ich ein kleines Wörterbuch für Volksschulen herausgeben“, schrieb er an Hänsel im Oktober 1924.

Im „Tractatus“ sah Wittgenstein die logische Struktur der idealisierten Sprache als kristallklares Bild der Wirklichkeit. In den „Philosophischen Untersuchungen“ forderte er später, dass die Logik unsere alltägliche Sprache analysieren solle: „Zurück auf den rauhen Boden!“ Das kleine „Wörterbuch für Volksschulen“ von 1926 schrieb er also ohne jede philosophische Absicht. Aber es bedeutete doch eine Station auf dem Weg zurück auf den rauen Boden. Wittgenstein wollte ein Wörterbuch verfassen, das an die lokalen Bedürfnisse seiner Schüler angepasst war. Diese Voraussetzung hat in dem Büchlein Spuren in Form von Austriazismen und Dialektausdrücken hinterlassen.

In Wittgensteins 1926 nicht veröffentlichtem Geleitwort zum „Wörterbuch“, das er im April 1925 in Otterthal schrieb, stellte er seine Motive für die Abfassung dar: „Das vorliegende Wörterbuch soll einem dringenden Bedürfnis des gegenwärtigen Rechtschreibunterrichtes abhelfen. Es ist aus der Praxis des Verfassers hervorgegangen: Um die Rechtschreibung seiner Klasse zu bessern, schien es dem Verfasser notwendig, seine Schüler mit Wörterbüchern zu versehen, um sie in den Stand zu setzen, sich jederzeit über die Schreibung eines Wortes zu unterrichten; und zwar, erstens, auf möglichst rasche Weise, zweitens aber auf eine Weise, die es möglich macht sich das gesuchte Wort dauernd einzuprägen. Hauptsächlich beim Schreiben und Verbessern der Aufsätze wird die Schreibung der Wörter dem Schüler zur interessanten und dringenden Frage. Das häufige Befragen des Lehrers oder der Mitschüler stört die Mitschüler bei ihrer Arbeit, leistet auch einer gewissen Denkfaulheit Vorschub und die Information durch den Mitschüler ist überdies häufig falsch. Außerdem aber hinterlässt die mündliche Mitteilung einen viel schwächeren Eindruck im Gedächtnis als das gesehene Wort. Nur das Wörterbuch macht es möglich, den Schüler für die Rechtschreibung seiner Arbeit voll verantwortlich zu machen, denn es gibt ihm ein sicheres Mittel seine Fehler zu finden und zu verbessern, wenn er nur will. Es ist aber unbedingt nötig, dass der Schüler seinen Aufsatz selbständig verbessert. Er soll sich als alleiniger Verfasser seiner Arbeit fühlen und auch allein für sie verantwortlich sein.“

Die Kritik der Schulbehörde an der Druckvorlage zum „Wörterbuch“ fiel nicht gerade enthusiastisch aus. Einiges wurde zu Recht bemängelt, aber schließlich stellte man fest, „daß nach Beseitigung der angeführten Mängel das Wörterbuch einen immerhin brauchbaren Unterrichtsbehelf für die Oberklassen der Volks- und Bürgerschulen darstellt.“

Wittgensteins Rechtschreib-Unterricht hatte positive Folgen. In einem rührend besorgten Brief an seinen Schüler Fuchs (später Schuhmachermeister in Trattenbach) vom 10. Februar 1924 heißt es: “Du schreibst mir, daß meine Schüler so gute Rechtschreiber sind; und Du Halunk schreibst ,grüßen‘ mit Doppel-s und ,Wahrheit‘ ohne h. Wart’!!

Aber laß Dich das ja nicht abhalten, mir oft zu schreiben. Jeder Brief von Dir freut mich herzlich und ein gelegentlicher Patzer macht gar nichts. Aber ich muß Dich doch auf ihn aufmerksam machen, denn Du sollst Deine gute Rechtschreibung jetzt nicht verlernen.”