Kirchberg am Wechsel

Im April 2001 erschien in einer Zeitung ein Artikel mit dem Titel „Der Philosoph und die Höhle der Fledermäuse“. Gemeint waren der Philosoph Ludwig Wittgenstein, die Hermannshöhle bei Kirchberg am Wechsel und deren Fledermäuse.

Wittgenstein hat sich in Kirchberg und auch in St. Corona öfters kurz aufgehalten, unterrichtet hat er in diesen Orten aber nie. Unverdrossen berichten Tageszeitungen und Texte im Internet dennoch, dass Wittgenstein in Kirchberg Lehrer gewesen sei, ja, dass Kirchberg sein Geburtsort sei, und dass er 21 Jahre, also bis zehn Jahre vor seinem Tod, als Volksschullehrer unterrichtet habe. Eine Zeitung schrieb im Jahr 2000 unter dem Titel „Philosoph hält Symposium“ (in Kirchberg) sogar: „Unter anderem nimmt auch Ludwig Wittgenstein an dem philosophischen Treffen teil.“

Mit seinen Schülern und Schülerinnen besuchte Wittgenstein Kirchberg und St. Corona und führte sie in die Kirche. Dort stellte sich seine Gruppe auf der Empore auf und sang in die leere Kirche herunter.

In Kirchberg fand auch eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Volksschulen des Feistritztales, an der Wittgenstein teilnahm, statt. Die Tagung war kein großer Erfolg, und Wittgenstein blieb, ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, während der Debatte stumm. Auf dem Heimweg jedoch erstaunte er seine Kollegen durch eine heftige Kritik: Nie mehr werde er an einer solchen (Pflicht-)Veranstaltung teilnehmen, Ausdrücke wie „Dreck“, „Nonsens“ und „Trottel“ hagelten auf die anderen Lehrer nieder.

Das alles wäre vielleicht nicht genug, um Kirchberg am Wechsel in die Wittgenstein-Landschaft zu versetzen. Aber Kirchberg am Wechsel ist der Sitz der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft und der Ort, an dem jährlich seit 1976 die Internationalen Wittgenstein-Symposien stattfinden.

Im Kirchberger Gemeindehaus finden Sie die sehenswerte Dokumentation „Ludwig Wittgenstein – Wirklichkeit und Mythos“ (Montag bis Freitag 8-11.30 Uhr).

 

Fotos aus der Daueraustellung „Ludwig Wittgenstein Wirklichkeit und Mythos“

Otterthal 1924-1926

Wittgensteins Schule in Otterthal 1925 mit seinem Autograph "My School" auf der Postkarte
Wittgensteins Schule in Otterthal 1925 mit seinem Autograph „My School“ auf der Postkarte

In Otterthal (auch: Ottertal) wurde Wittgenstein für eine kurze Zeit “sesshaft”. Er wohnte, wie andere Lehrer auch, in der Schule; sie steht noch heute. Jeder hatte dort ein Zimmer für sich, allerdings gab es keine Kochgelegenheit. Die Lehrer, auch Wittgenstein, aßen daher in Rottensteiners Gasthof „Zur Post“.

Otterthal war von 1924 bis 1926 die letzte Station Wittgensteins als Volksschullehrer. Sein Aufenthalt endete unglücklich. Wie aus vielen Berichten hervorgeht, neigte Wittgenstein dazu, die Schülerinnen und Schüler – ganz entgegen der glöckel’schen Schulreform – körperlich zu bestrafen. In Otterthal führte dies zu einer Katastrophe. Wittgenstein hatte einem Schüler ein paar Ohrfeigen gegeben. Der Schüler, der, wie sich später herausstellte, an Leukämie litt, wurde ohnmächtig. Beim Dienstaufsichtsverfahren wurde Wittgenstein zwar von jeder Schuld freigesprochen, aber er schied dennoch auf eigenen Wunsch aus dem Schuldienst aus.

Eine Vorahnung dieser Entwicklung findet sich in einem Brief Wittgensteins vom 18. Oktober 1925 an seinen Freund, den Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946): “Ich habe beschlossen, Lehrer zu bleiben, so lange bis ich fühle, dass die Schwierigkeiten, in die ich auf diese Weise gerate, mir gut tun. Wenn man Zahnweh hat, dann tut es gut, wenn man eine Wärmflasche aufs Gesicht legt. Aber das wirkt nur so lange, als die Hitze der Wärmflasche einigen Schmerz verursacht. Ich werde die Wärmflasche wegwerfen, wenn ich herausfinde, dass sie mir nicht mehr diese besondere Art von Schmerz verursacht, die meinem Charakter gut tut. Das heißt, wenn man mich nicht zuvor hinauswirft.”

So erfüllte sich letztlich, was er am 12. September 1925 an Eccles geschrieben hatte: „Ich versuche mich wieder in meinem alten Beruf, wie Du von dieser Postkarte sehen kannst. Jedoch fühle ich mich jetzt nicht so elend, weil ich mich entschlossen habe, zu Dir zu kommen, wenn es zum Schlimmsten kommt, was früher oder später eintreten wird.“ Ähnlich pessimistisch hatte Wittgenstein sich bereits Ende Oktober 1924 gegenüber Hänsel geäußert: Er sei der Arbeit nicht gewachsen, „und ich werde ein klägliches Ende nehmen“.

Aus Otterthal schickte Wittgenstein auch an seinen Freund Koder Briefe und eine Postkarte, auf der er selbst und seine Klasse abgebildet waren. Sein Kommentar dazu: „Ich sehe aus wie ein degenerierter Raubvogel.“ Dies wird sich wohl auf die bekannte Photographie beziehen, die Wittgenstein und die Schüler vor der Otterthaler Schule zeigt.

Trotz aller bösen Vorahnungen war auch in Otterthal nicht alles grau und trüb. Vergnügt schrieb Wittgenstein am 24. April 1925 an Koder: „Auch hier in meinem idyllischen Otterthal wird mein Geburtstag, den ich am liebsten geheim gehalten hätte, von der Bevölkerung durch eine mächtige Demonst[r]ation gefeiert. Aus allen Gauen der Waldmark strömen Tausende und Abertausende herbei; um ihren geliebten Lehrer an seinem Jubeltag zu begrüßen und dem Wunsche Ausdruck zu verleihen, er möchte noch viele Jahre zum Wohle der vaterländischen Jugend wirken und dadurch auch den jüngeren Kräften – wie z.B. Dir – ein Beispiel und Ansporn der Aufopferung und Pflichttreue sein. Ich selbst werde an diesem Tage über den Achtstundentag, den Völkerfrieden und die Arbeitslosenunterstützung reden.“

In Otterthal verfasste Wittgenstein das zweite und letzte Buch, das zu seinen Lebzeiten gedruckt wurde, das „Wörterbuch für Volksschulen“. Es erschien zuerst 1926 und dann 1977 als Faksimile in Wien, beide Male bei Hölder-Pichler-Tempsky. Dies war der Anstoß, die „Schriftenreihe der Wittgenstein Gesellschaft“ bei demselben Verlag herauszugeben.

Wittgenstein mit seinen Schülern in Otterthal 1925
Wittgenstein mit seinen Schülern in Otterthal 1925

Hier in Otterthal endete die Laufbahn Ludwig Wittgensteins als Volksschullehrer. Sein weiterer Weg wird ihn über Wien nach Cambridge führen, wo er schließlich Professor an der Universität und berühmt werden wird. Und er wird als Professor in Cambridge geradeso glücklich oder unglücklich sein, wie als Schullehrer in Trattenbach, Haßbach, Puchberg und Otterthal, denn „Das Leben ist nirgends leicht“, wie er 1923 aus Puchberg an seinen Freund Hänsel geschrieben hatte.

Schulzeugnis, das von Wittgenstein unterschrieben wurde
Schulzeugnis, das von Wittgenstein unterschrieben wurde

Puchberg 1922-1924

Wittgenstein mit seinen Schülern in Puchberg 1925
Wittgenstein mit seinen Schülern in Puchberg 1925

Puchberg am Schneeberg ist derjenige Ort, an dem Wittgenstein – relativ – zufrieden war. Hier verbrachte er, von 1922 bis 1924, den zweiten Abschnitt seiner Zeit als Volksschullehrer. Bestimmt war diese relative Zufriedenheit auch darauf zurückzuführen, dass er dort über die Musik einen wahren Freund fand, mit dem er für den Rest seines Lebens in Verbindung blieb, den Lehrer Rudolf Koder (1902-1977). Noch von der Adresse Storey’s Way 76 in Cambridge, dem Haus seines Arztes, wohin er sich kurz vor seinem Tod am 29. April 1951 zurückgezogen hatte, schrieb Wittgenstein am 30. März 1951 einen letzten Brief an Koder, der mit dem Satz „Mögest Du an mich mit den gleichen Gefühlen denken, wie ich an Dich“ schloss. Jedoch nicht einmal dieser Freund blieb von seiner scharfen Kritik verschont: So schrieb er 1938, dass er mit Koder nicht befriedigend stehe, und dass dessen liebenswürdige Art ihn, Wittgenstein, nicht wärme.

Wittgenstein hatte Koder über die Musik kennen gelernt, und dank der Musik entwickelte sich aus der Bekanntschaft der Lehrerkollegen eine lebenslange Freundschaft. Koder berichtete 1975 darüber: Wittgenstein war ein Einzelgänger. Aber als er, Koder, in seinem Zimmer in der Schule auf dem Klavier den ersten Satz der „Mondscheinsonate“ von Beethoven spielte, klopfte es. Wittgenstein trat ein und fragte, ob er zuhören dürfe. Dieser Besuch wurde zu einem fast täglichen Ereignis, das stets auf die gleiche Weise ablief: Wittgenstein spielte die Themen der Musikstücke auf seiner Klarinette oder er pfiff sie – er soll ein außerordentliches Talent zum Pfeifen gehabt und ganze Musikstücke auswendig gepfiffen haben. Koder begleitete ihn am Klavier.

Das Wohnen in Puchberg entwickelte sich zur schon von Trattenbach her gewohnten Odyssee. Zuerst hatte ihm die Gemeinde ein Zimmer im „Hotel Pfennigbach“ zugewiesen, das der Familie Krumböck gehörte. Das Zimmer war kalt und unbequem, und Wittgenstein war froh, als er es mit einem Zimmer beim Cafétier Zwinz vertauschen konnte. Noch heute steht in der Nähe der Pfennigbachstraße ein älteres Haus, das „Gasthof Krumböckhof“ heißt, und ein älteres Café-Restaurant Zwinz gibt es auch noch. Es ist gut möglich, dass dies die zwei ersten Stationen der Puchberger Wohn-Odyssee waren. Darauf folgte ein Aufenthalt in einem schönen Zimmer im ersten Stock der Ehrbarvilla. Wittgenstein zog dort wegen eines Streits mit der Hausbesitzerin aus. Schließlich landete er im September 1923 in einem typisch wittgenstein’schen Domizil: einer winzigen ausgeräumten Kammer, vom Sohn des Hauses als „sogenannte Waschküche“ und „Bügelzimmer“ beschrieben. Sie war eng, finster und feucht und hatte einen betonierten Boden. Die Waschküche und das Haus am Ziehrerweg 7, an das sie angebaut war, gehörten der Familie Rendl (auch: Rendel). Dort blieb Wittgenstein höchstwahrscheinlich für den Rest seiner Zeit in Puchberg. Frau Rendl betreute Wittgenstein liebevoll, sie bereitete ihm jeden Tag das Frühstück. Zu Mittag aß er wie die anderen Lehrer im Gasthaus Hietz.

Im Jänner 1924 liefen Wittgenstein und sein Kollege Rosner einmal auf dem zugefrorenen Puchberger Teich, der heute im Kurpark liegt, Schlittschuh. Trotz der Warnungen Rosners lief Wittgenstein auch über die noch wenig zugefrorenen Stellen und brach prompt ein. Rosner wollte helfen – und plumpste ebenfalls ins Wasser. Koder stand am Ufer und schrie. Schließlich gelang es den beiden, aus dem Wasserloch herauszukommen. Sie gingen nach Hause und legten sich ins Bett. Krank wurden sie nicht. Eislaufen war in der ganzen Wittgenstein-Familie ein beliebter Sport. Es gibt Fotos, auf denen man verschiedene Familienmitglieder auf dem Platz des Wiener Eislaufvereins Schlittschuh laufen sieht.

Wittgenstein scheute sich nie, selbst Hand anzulegen. Wie in Trattenbach so präparierte er auch in Puchberg kleinere Tiere für die Lehrmittelsammlung. Aus dieser Sammlung stammt das in Trattenbach ausgestellte Skelett einer von Wittgenstein präparierten Katze. Darüber hinaus erprobte er seine große handwerkliche Geschicklichkeit an der Drehbank der Schlosserei Haberler.

Über der praktischen Betätigung und dem Unterrichten verlor Wittgenstein jedoch nicht sein Interesse an der Beschäftigung mit der Sprache, auch wenn es kein philosophisches Interesse war. „Ich glaube wenn ich lang genug lebe werde ich ein kleines Wörterbuch für Volksschulen herausgeben“, schrieb er an Hänsel im Oktober 1924.

Im „Tractatus“ sah Wittgenstein die logische Struktur der idealisierten Sprache als kristallklares Bild der Wirklichkeit. In den „Philosophischen Untersuchungen“ forderte er später, dass die Logik unsere alltägliche Sprache analysieren solle: „Zurück auf den rauhen Boden!“ Das kleine „Wörterbuch für Volksschulen“ von 1926 schrieb er also ohne jede philosophische Absicht. Aber es bedeutete doch eine Station auf dem Weg zurück auf den rauen Boden. Wittgenstein wollte ein Wörterbuch verfassen, das an die lokalen Bedürfnisse seiner Schüler angepasst war. Diese Voraussetzung hat in dem Büchlein Spuren in Form von Austriazismen und Dialektausdrücken hinterlassen.

In Wittgensteins 1926 nicht veröffentlichtem Geleitwort zum „Wörterbuch“, das er im April 1925 in Otterthal schrieb, stellte er seine Motive für die Abfassung dar: „Das vorliegende Wörterbuch soll einem dringenden Bedürfnis des gegenwärtigen Rechtschreibunterrichtes abhelfen. Es ist aus der Praxis des Verfassers hervorgegangen: Um die Rechtschreibung seiner Klasse zu bessern, schien es dem Verfasser notwendig, seine Schüler mit Wörterbüchern zu versehen, um sie in den Stand zu setzen, sich jederzeit über die Schreibung eines Wortes zu unterrichten; und zwar, erstens, auf möglichst rasche Weise, zweitens aber auf eine Weise, die es möglich macht sich das gesuchte Wort dauernd einzuprägen. Hauptsächlich beim Schreiben und Verbessern der Aufsätze wird die Schreibung der Wörter dem Schüler zur interessanten und dringenden Frage. Das häufige Befragen des Lehrers oder der Mitschüler stört die Mitschüler bei ihrer Arbeit, leistet auch einer gewissen Denkfaulheit Vorschub und die Information durch den Mitschüler ist überdies häufig falsch. Außerdem aber hinterlässt die mündliche Mitteilung einen viel schwächeren Eindruck im Gedächtnis als das gesehene Wort. Nur das Wörterbuch macht es möglich, den Schüler für die Rechtschreibung seiner Arbeit voll verantwortlich zu machen, denn es gibt ihm ein sicheres Mittel seine Fehler zu finden und zu verbessern, wenn er nur will. Es ist aber unbedingt nötig, dass der Schüler seinen Aufsatz selbständig verbessert. Er soll sich als alleiniger Verfasser seiner Arbeit fühlen und auch allein für sie verantwortlich sein.“

Die Kritik der Schulbehörde an der Druckvorlage zum „Wörterbuch“ fiel nicht gerade enthusiastisch aus. Einiges wurde zu Recht bemängelt, aber schließlich stellte man fest, „daß nach Beseitigung der angeführten Mängel das Wörterbuch einen immerhin brauchbaren Unterrichtsbehelf für die Oberklassen der Volks- und Bürgerschulen darstellt.“

Wittgensteins Rechtschreib-Unterricht hatte positive Folgen. In einem rührend besorgten Brief an seinen Schüler Fuchs (später Schuhmachermeister in Trattenbach) vom 10. Februar 1924 heißt es: “Du schreibst mir, daß meine Schüler so gute Rechtschreiber sind; und Du Halunk schreibst ,grüßen‘ mit Doppel-s und ,Wahrheit‘ ohne h. Wart’!!

Aber laß Dich das ja nicht abhalten, mir oft zu schreiben. Jeder Brief von Dir freut mich herzlich und ein gelegentlicher Patzer macht gar nichts. Aber ich muß Dich doch auf ihn aufmerksam machen, denn Du sollst Deine gute Rechtschreibung jetzt nicht verlernen.”

Trattenbach 1920-1922

Foto vom Eingang zur Daueraustellung Wittgenstein in Trattenbach
Eingang zur Dauerausstellung in Trattenbach

„SN3 § 445 ovvero Berkeley-Napoli via Berlino-Ginevra-Trattenbach-Pisa-Mistretta (e forse ritorno)“, so lesen wir in einer Ankündigung für einen Konferenzvortrag. Auch wenn wir keine Ahnung haben, was der ganze Vortragstitel bedeuten soll – eines wissen wir: „Trattenbach“ ist eine Chiffre für „Wittgenstein“, denn Trattenbach war ab September 1920 die erste Station auf Wittgensteins Karriere als Volksschullehrer. Damals hatte die Gemeinde ungefähr 800 Einwohner. Laut einer Chronik unterrichtete Wittgenstein in den Jahren 1921/1922 ungefähr 70 Schülerinnen und Schüler.

Ein Reiseführer von 1898 beschreibt Trattenbach als „idyllisch“ und fügt hinzu: „mit einfachem aber gutem Gasthause“. Ganz ähnlich war auch Wittgensteins erster Eindruck, den er am 11. Oktober 1920 in einem Brief an Engelmann festhielt: „Ich bin jetzt endlich Volksschullehrer und zwar in einem sehr schönen und kleinen Nest, es heißt Trattenbach (bei Kirchberg am Wechsel, N.Ö.). Die Arbeit in der Schule macht mir Freude und ich brauche sie notwendig; sonst sind bei mir gleich alle Teufel los.“

Spätere Beschreibungen waren weniger freundlich. So heißt es bei W.W. Bartley, einem Biographen Wittgensteins: „Obwohl Trattenbach in den Bergen liegt, gehört es nicht zu Österreichs anziehenderen oder hübscheren Dörfern. […] Heutzutage ist Trattenbach ein unordentliches, ungepflegtes Nest mit tristen Häusern. Zu Wittgensteins Zeit muss es noch viel trister ausgesehen haben.“

Unter dem Eindruck, dass er in Trattenbach als Lehrer seiner Schüler, als Lehrerkollege und als Dorfbewohner nicht zurechtkam, verkehrte sich auch Wittgensteins Urteil ins Gegenteil. Am 23. Oktober 1921 schrieb er an Russell: „Bei mir hat sich nichts verändert. Ich bin noch immer in Trattenbach und bin nach wie vor von Gehässigkeit und Gemeinheit umgeben. Es ist wahr, dass die Menschen im Durchschnitt nirgends sehr viel wert sind. Aber hier sind sie viel mehr als anderswo nichtsnutzig und unverantwortlich. Ich werde vielleicht noch dieses Jahr in Trattenbach bleiben, aber länger wohl nicht, da ich mich hier auch mit den übrigen Lehrern nicht gut vertrage.“

Russell versuchte ihn zu beruhigen: Die Menschen seien überall gleich schlecht. Wittgenstein antwortete darauf am 28. November 1921: „Du hast recht: nicht die Trattenbacher allein sind schlechter, als alle übrigen Menschen; wohl aber ist Trattenbach ein besonders minderwertiger Ort in Österreich und die Österreicher sind – seit dem Krieg – bodenlos tief gesunken, dass es zu traurig ist, davon zu reden! So ist es.“

Die Antipathie beruhte bestimmt auf Gegenseitigkeit, und die Trattenbacher zahlten es dem ungeliebten Lehrer zunächst vielleicht heim. In der außerordentlich detailreichen Ortschronik von Trattenbach aus dem Jahr 1934, verfasst vom Lehrer Franz Scheibenreif, fehlt Wittgenstein in der sonst vollständigen Liste der Lehrer. Dabei war er immerhin zwei Jahre in Trattenbach.

Auf das heutige Trattenbach passen alle diese Beschreibungen nicht so recht: Der Ort ist zwar keine Idylle im gängigen Sinn, aber idyllisch ist er immer noch.

Wittgensteins Tätigkeit als Lehrer in Trattenbach hat auch einen ironischen Aspekt: Die Schule in Trattenbach war die erste Volksschule, die Wittgenstein so richtig von innen kennen lernte. Bis zu seinem 14. Lebensjahr wurde er ja von Hauslehrern unterrichtet. In den zwei Jahren, in denen Wittgenstein in Trattenbach unterrichtete, brachte er es fertig, vier Mal umzuziehen. Zunächst wohnte er im „Schachnerstüberl“, einem Nebengebäude des Gasthofs „Zum Braunen Hirschen“, höchstwahrscheinlich in der rechten Mansarde. Von dort vertrieb ihn die Tanzmusik, und er quartierte sich zunächst kurz beim Lehrer Berger ein, dann in der Küche der Oberlehrer-Wohnung in der Schule. In dieser Küche hackte er Holz auf dem Herdrand und auf dem Fußboden, die dann auch danach aussahen. Stundenlang saß er auf der Fensterbank des Küchenfensters und beobachtete den Sternenhimmel. Die nächste und letzte Station war für ca. 1 1/2 Jahre eine Kammer im Obergeschoß des Scheibenbauer-Hauses, das heute noch steht. Wittgensteins Zimmer befand sich zwischen zwei anderen, es konnte nur von außen über einen Steg erreicht werden. Hier, wie auch in seinen anderen Behausungen oder auch in der Schule, erteilte er den besten Schülern kostenlosen Privatunterricht, um sie aufs Gymnasium vorzubereiten.

Auch die Schule, in der Wittgenstein unterrichtete, gibt es noch. Die Spuren, die Wittgensteins Holzhacken dort hinterlassen hat, sind schon längst verschwunden, genau so wie die Spuren von Wittgensteins „handgreiflicheren“ Erziehungsmethoden.

Wenn man von Trattenbach auf dem „Wittgenstein-Weg“ in den Schlaggraben geht, kommt man zum Trahthof. Wittgenstein aß hier gewöhnlich zu Mittag. Damals war der – heute umgebaute – Trahthof ein sehr bescheidenes Anwesen. Einer der zwei Erwachsenen, zu denen Wittgenstein in Trattenbach ein gutes Verhältnis hatte, war die alte Trahtbäurin Christine Draht. Der andere war Pfarrer Neururer, ein Außenseiter wie Wittgenstein selbst. Als Wittgenstein die Trahtbäurin kennen lernte, war sie an die 70 Jahre alt. 1933 besuchte er die schwer kranke Christine Draht in Begleitung Neururers ein letztes Mal.

In der Vergangenheit war der Bauernhof und Gasthof „Zum braunen Hirschen“ (Nr. 83) mit seinem Sägewerk, einer Schmiede, einer Bäckerei und später einer Fleischhauerei das Zentrum der Gemeinde Trattenbach, das „angesehenste und bedeutendste Anwesen in Trattenbach“, wie es in der Scheibenreif-Chronik heißt. Heute ist der Gasthof nicht mehr in Betrieb und verfällt langsam.

Das zum „Braunen Hirschen“ gehörende „Schachnerstöckl“ oder „Schachnerstüberl“ mit Keller, Wohnung und Fremdenzimmern (Nr. 82) wurde 1838 erbaut. Es trägt seinen Namen erst seit 1930. Heute steht es unter Denkmalschutz. In diesem „Schachnerstüberl“ befand sich also Wittgensteins erste Wohnung in Trattenbach.

Der „Braune Hirsch“ war zur Zeit Wittgensteins keineswegs das einzige Gasthaus in Trattenbach. Z.B. wurde 1897 im Haus Nr. 72, das zur örtlichen Textilfabrik gehörte, ein Werkgasthof errichtet. Im „Schachnerstüberl“ befindet sich heute die liebevoll gestaltete Dauerausstellung „Ludwig Wittgenstein und Trattenbach“ – näheres unter www.volkskulturnoe.at/museen/0089.htm.

In einem Gasthof in Trattenbach wurde 1974 die Österreichische Ludwig Wittgenstein Gesellschaft gegründet.

 

Jährlich besuchen die Teilnehmer des Internationalen Wittgenstein Symposium die Dauerausstellung „Ludwig Wittgenstein und Trattenbach

Wittgenstein Landschaft

Landschaften, oder: „Das Leben ist nirgends leicht“

 

„Das Leben ist nirgends leicht.“ – Diesen Satz schrieb Wittgenstein im Juli 1923 an seinen Freund, den Mittelschullehrer Ludwig Hänsel (1886–1959).

Wenn wir uns den Menschen Ludwig Wittgenstein in einer realen Landschaft vorstellen, dann sind es deren drei, die uns unmittelbar vor Augen treten: der norwegische Sognefjord mit seinen Flüssen und Nebengewässern: Wittgenstein baute sich dort am Wasser, über dem Eidsvatnet See, auf einer steil abfallenden, schier unzugänglichen Anhöhe ein Blockhaus. Eine andere Wittgenstein-Landschaft sind die einsamen Küsten Irlands. Und drittens ist da noch die „Bucklige Welt“, das Wechselgebiet und das Gebiet um den Schneeberg, wo Wittgenstein von 1920 an sechs Jahre als Volksschullehrer unterrichtete.

In einem berühmten Zitat aus den Schriften John Donnes aus dem 17. Jahrhundert heißt es: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents.“ Betrachten wir das Leben Wittgensteins als Volksschullehrer in Trattenbach, Puchberg und Otterthal, dann könnten wir sehr wohl den Eindruck gewinnen, dass er versuchte, eine solche Insel zu sein.

Seinen Kollegen und Mitmenschen erschien er bestimmt wie eine Insel: ein Vornehmer unter den Armen, ein Gelehrter unter den Bauern und Arbeitern, einer, der nie Mundart sprach, am Abend nicht ins Wirtshaus und kaum in die Kirche ging, sich nicht wie ein Lehrer kleidete, nicht grüßte – kurz, und wahrscheinlich wohlwollend gemeint, einer, der auf die Leute „einen kuriosen Eindruck machte“, wie die Zeitzeugin Johanna Berger berichtete.

Zu den Plätzen in Niederösterreich, für die Wittgenstein ein genius loci geworden ist, solle man sich wie auf eine Pilgerreise begeben, heißt es. „Wandern mit Wittgenstein“, „Ludwig Wittgenstein: Vom Genie zum Dorfschullehrer“, „Askese in der Buckligen Welt“, „Wittgenstein-Kult in Trattenbach“, „Waschtisch des Philosophen“, „Wittgensteins Lavoir“ (auch ein Mythos: Wittgenstein hat sich nie darin gewaschen), „Vielleicht haben Sie im Urlaub Zeit, ein wenig zu philosophieren?“ und „Von Wittgenstein zur Sommerrodelbahn“ heißt es in verschiedenen Publikationen. In der ersten, nicht mehr existenten Wittgenstein-Dokumentation in Kirchberg am Wechsel findet man „Dokumente aus dem Leben eines genialen, einsamen Mannes“.

Was macht diese Landschaft zu einer „Wittgenstein-Landschaft“?

(Texte von Elisabeth Leinfellner, aus dem Buch „Ludwig Wittgenstein“ – Ein Volksschullehrer in Niederösterreich.)
(Foto: Blick auf den Hochwechsel | © Christian Kremsl)

 

Trattenbach 1920-1922

Puchberg 1922-1924

Otterthal 1924-1926

Kirchberg am Wechsel

Sein Leben – Sein Werk

Ludwig Josef Johann Wittgenstein

geboren am 26. April 1889 in Wien, gestorben am 29. April 1951.

 

Ludwig Wittgenstein war einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Zu seinen Lebzeiten erschienen nur einige wenige seiner Werke: das Buch, das ihn berühmt machte, der Tractatus logico-philosophicus, sein kleines Wörterbuch für Volksschulen und zwei Aufsätze. Seine umfangreichen philosophischen Arbeiten nach dem Tractatus zirkulierten in Manuskriptform und wurden erst nach seinem Tod herausgegeben.

[…]

Ludwig Wittgenstein war das jüngste Kind einer der bedeutendsten österreichischen Industriellenfamilien der Jahrhundertwende, die im kulturellen Leben Wiens eine ausnehmend große Rolle spielte. Wittgenstein wurde zunächst zu Hause unterrichtet. Eine öffentliche Schule, die k. u. k. Staatsoberrealschule in Linz, besuchte er erst in den letzten drei Jahren vor der Matura. Wittgenstein studierte anschließend Ingenieurwissenschaften in Berlin und später auch in Manchester.

Bei seinen technischen Versuchen (z. B. mit Flugdrachen) stieß er auf Grundlagenprobleme der Mathematik und wandte sich an Bertrand Russell. Dies wurde für ihn die entscheidende Berührung mit der Philosophie.

Ende 1911 ging Wittgenstein nach Cambridge, um bei Bertrand Russell Logik und Philosophie zu studieren. Auch mit dem berühmten Logiker Gottlob Frege nahm er Kontakt auf. Wittgenstein hatte bald den Ruf, einer der brillantesten jungen Philosophen in Cambridge zu sein, und er schloß Freundschaft nicht nur mit dem Philosophen George Edward Moore und dem Ökonomen John Maynard Keynes, sondern auch mit seinem Lehrer Bertrand Russell.

Ab 1913 arbeitete er – zum Teil in Norwegen, wo er sich in Skjolden ein kleines Holzhaus bauen ließ – an Manuskripten, die Vorarbeiten zum Tractatus darstellen.

Wittgenstein nahm als Freiwilliger am 1. Weltkrieg teil. Er geriet in italienische Gefangenschaft, die ihn in das Lager von Monte Cassino brachte. Die Arbeit am Tractatus hatte er noch vor der Gefangenschaft abgeschlossen.

Wittgenstein hatte anschließend Schwierigkeiten, den Tractatus zu veröffentlichen; erst durch Russells Vermittlung erschien das Buch, zunächst 1921 in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie und 1922 in einer deutsch-englischen Ausgabe bei Kegan Paul in London.

1919 kehrte er nach Wien zurück und änderte sein Leben: Er übergab sein Vermögen seinen Geschwistern, setzte sich nochmals auf die Schulbank (diesmal jene einer Lehrerbildungsanstalt) und wurde Volksschullehrer in Trattenbach, Puchberg und Otterthal in Niederösterreich.

Nach kaum sechs Jahren gab Wittgenstein seinen Lehrberuf auf und beschäftigte sich stattdessen mit Architektur. Zusammen mit dem Architekten Paul Engelmann baute er in der Kundmanngasse, in Wien, ein Haus für seine Schwester Margarethe.

Schon während seiner Zeit als Lehrer hatte ihn der bedeutende Statistiker und Logiker Paul Ramsey besucht und mit ihm tagelang diskutiert. Die Philosophen des Wiener Kreises, allen voran Moritz Schlick, waren vom Tractatus sehr beeindruckt und luden Wittgenstein zu verschiedenen Diskussionen ein. Dies war wohl die Ursache, dass Wittgenstein, der ursprünglich geglaubt hatte, im Traktat alle Probleme der Philosophie gelöst zu haben, doch wieder zur Philosophie zurückkehrte.

Anfang 1929 ging Wittgenstein abermals nach Cambridge. Er promovierte mit dem Tractatus Logico-Philosophicus als Dissertation und lehrte dann einige Zeit als Research Fellow. Die Art, wie Wittgenstein lehrte, war gänzlich ungewohnt: Er unterrichtete nur seine eigene Philosophie, sei es Sprachphilosophie, Ästhetik, Philosophie der Psychologie oder Philosophie der Mathematik. Während dieser Zeit diktierte er seinen Schülern das Blaue Buch und das Braune Buch.

Als 1936 die Lehrstelle in Cambridge zu Ende war, ging Wittgenstein nach Norwegen, wo er an seinen Manuskripten weiter arbeitete. 1939 wurde er als Nachfolger Moores auf dessen Lehrstuhl berufen. Im selben Jahr erlangte er die britische Staatsbürgerschaft. Wittgenstein begann seine Lehrtätigkeit als Professor mit einem Seminar über seine Philosophischen Untersuchungen. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete Wittgenstein außerdem in zwei Spitälern.

In der Folge löste sich Wittgenstein langsam vom akademischen Leben in Cambridge, verbrachte viel Zeit in Irland, und legte 1947 seine Professur nieder. Bis 1949 arbeitete er hauptsächlich in Irland an seinen späten Schriften zur Philosophie der Psychologie.

1949 reiste Wittgenstein nach Ithaca im Staat New York. Schon vor seiner Abreise hatte er Anzeichen einer Krankheit gespürt, die in den USA in stärkerer Form wieder auftraten. Zurück in England wurde Krebs diagnostiziert. Wenige Wochen vor seinem Tod begann Wittgenstein an neuen Manuskripten zu arbeiten, den Bemerkungen über die Farben und Über Gewissheit. Wittgenstein starb am 29. April 1951. Bevor er das Bewusstsein verlor, sagte er: „Sage ihnen, dass ich ein wunderbares Leben gehabt habe.“

(Text von Elisabeth Leinfellner)